In Europa ist es Routine, in Afrika ein Abenteuer: Autos reparieren. Die Fitter im westafrikanischen Ghana haben es darin, obwohl es ihnen an Werkzeugen und passenden Ersatzteilen mangelt, zu hoher Meisterschaft gebracht – mit ungeheurem Improvisationstalent und den ungewöhnlichsten Mitteln. Die Fitter widerlegen das alte europäische Vorurteil, Afrikaner könnten nicht mit der Technik umgehen. Und sie haben sich eine Ordnung gegeben, die an mittelalterliche Zünfte erinnert und den Staat ignoriert. – von Peter Kensok mit Fotos von Horst Munzig (aus GEO, August 1986, Seite 36-50).
Langsam setzt Kofi die Flasche, aus der er gerade noch den Behälter für die Bremsflüssigkeit gefüllt hat, an den Mund und trinkt sie in einem Zug leer. Als er mein verblüfftes Gesicht sieht, grinst er breit: »Keine Sorge. In Ghana gibt’s schon lange keine Bremsflüssigkeit mehr. Da nehmen wir eben Bier. Aber nigerianisches muss es sein. Ghanaisches bremst nicht.« Und während er dem Toyota, mit dem er das Bier geteilt hat, liebevoll aufs Blech klopft, sagt er: »Jedenfalls kann man den Wagen jetzt wieder fahren.«
»Fitter: Es lebe der Schrott« – zum Herunterladen hier.
Eigentlich hätte mich Kofis Trick nicht überraschen dürfen, denn Kofi ist ein Fitter. Und Fitter sind notorisch für ihren Einfallsreichtum, wenn es darum geht, Autos zu reparieren. Sie haben aus wirtschaftlicher Not und dem chronischen Ersatzteilmangel ihres Landes eine Tugend gemacht: Mit viel Improvisationstalent, virtuosem handwerklichen Können und mit den abenteuerlichsten Mitteln flicken sie selbst noch solche Autos zusammen, die in Deutschland nicht einmal mehr bei Auto-crash-Veranstaltungen zugelassen würden. Jedes Mittel ist recht, Hauptsache der Wagen rollt wieder.
Hier wurden die Fitter von Ghana zum ersten Mal wirklich von einem großen Publikum wahrgenommen: In GEO, August 1986: Fitter: Es lebe der Schrott.
Ohne die Fitter wäre der Straßenverkehr in Ghana längst zusammengebrochen, denn Werkstätten ausländischer Autofirmen sind zu selten und zu teuer für die einheimischen Autofahrer. Aber der ungewöhnliche Erfolg der Fitter schürt auch allerlei Gerüchte. Selbst Ghanaer, die ihre Autos von ihnen reparieren lassen, vermuten Unheimliches hinter dem Talent der Fitter.
Der Taxifahrer zum Beispiel, der mich einen Teil des Weges von der ghanaischen Hauptstadt Accra in den Südwesten nach Cape Coast fuhr, zweifelte an der Rechtschaffenheit dieser Leute. Es klang wie eine Warnung: »Wenn die Fitter Autos reparieren geht das nicht mit rechten Dingen zu. Es ist Zauberei, juju!« Dabei jagte er seinen Datsun durch die Schlaglöcher, dass ich mir stärkere Nerven, zumindest aber einen Sicherheitsgurt gewünscht hätte. Doch wir wurden sanft gefedert. »Die haben aus den Stoßdämpfern verschiedener Autotypen für meinen Wagen neue zusammengeschweißt. Das ist doch nicht normal, oder?«
Alhassan, der Fitter-Meister, bei dem ich einen Monat in die Lehre gegangen bin, verstärkte diesen Eindruck noch. Er begrüßte mich, als wollte er mich in einen Geheimkult einweihen. »Mit der Fitter-Lehre ist das so«, begann er ernst und zeigte auf den Rücken seiner schlanken Hand, »solange ich dich ausbilde, wirst du sehen, dass das hier schwarz ist. Aber wenn du hinterher noch ein halbes Jahr oder länger bei mir bleibst«, er drehte die Handfläche nach oben, »dann zeige ich dir das Weiße in der Hand. Dann weißt du alles über die Arbeit eines Fitters.«
1986 – Fitter: Es lebe der Schrott – das Aufmacherfoto von Horst Munzig zur Reportage in der Zeitschrift GEO.
Erst später habe ich begriffen, dass Alhassan mit seiner merkwürdigen Erzählung nur ausdrücken wollte, er, der Meister, könne jedem die Kunst der Autoreparatur beibringen.
Seit fast drei Jahrzehnten verlässt er sich auf sein Improvisationstalent bei der Wartung und Reparatur von Autos – und lebt gut davon. Zwar hat der 50jährige Alhassan sein Haus bescheiden mit nur wenigen, grob zusammengezimmerten Möbeln eingerichtet, doch er verdient genug, um drei Frauen und 13 Kinder zu ernähren. »Bald werden es mindestens 15 sein«, erzählt er stolz, »denn Candy und Ranamatu sind wieder schwanger.«
Mit Almina, die ihm neun Kinder geschenkt hat, war Alhassan bereits verheiratet, als er 1957 seine Ausbildung zum Fitter begann. Zuvor hatte er auf dem Feld seines Vaters am Volta-See gearbeitet, wurde dann Schneider und reparierte schließlich Fahrräder in der Werkstatt seines Onkels.
»Fitter: Es lebe der Schrott« – zum Herunterladen hier.
»Weißt du noch, wie du deine Lehre als Fitter begonnen hast?« »Ja, genau so, wie heute die Lehrlinge eingeführt werden. Es ist ein wichtiges Treffen der Meister, mit dem alles beginnt.«
»Werden wir eine solche Feier erleben?«
»Wer weiß das schon?«, sagte Alhassan nachdenklich. »Geht zum Siwudu Kokompe. Vielleicht bekommt ein Meister einen neuen Lehrling.« Und er fügte hinzu: »If we pray« – wenn wir darum beten.
Am nächsten Tag besuche ich Alhassan im Siwudu Kokompe, dem Stadtteil von Cape Coast, in dem die Fitter ihre Werkstätten errichtet haben. »Werkstatt« ist eine euphemistische Bezeichnung für die windschiefen Holzhütten, in deren Schatten Autos repariert werden, oder für die lose aufgeschichteten Steinbauten, vor denen sich Schrotthaufen türmen. Auch eine im Boden eingelassene Kiste mit ein paar Quadratmetern festgestampfter Erde drumherum ist eine Werkstatt.
1985 – Ein bescheidener Beitrag über die Fitter von Ghana in der renommierten wissenschaftlichen Zeitschrift »Sociologus«.
Irreführend ist aber auch der Name »Kokompe« für das friedliche Werkstattdorf. Er bedeutet etwa: »Dort, wo die zwielichtigen Typen leben«, und stammt noch aus der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg. Damals kehrten die Ghanaer, die während des Krieges in verschiedenen Armeen gedient hatten, in ihr Land zurück; von Accra aus wollten sie in ihre Dörfer fahren, doch sie blieben auf dem Güterbahnhof der Hauptstadt hängen. Bald entstand dort ein Gewerbezentrum, in dem Rohstoffe aus dem ganzen Land verarbeitet wurden, und auch die ersten Fitter ließen sich nieder. Nicht immer ging es im Kokompe legal zu. Wie mit Holz, Leder und Lebensmitteln, so wurde auch mit Schwarzgeld und Schmuggelware gehandelt – Anlass für die Regierung, 1979 das große Kokompe von Accra niederzureißen.
Von den wilden Zeiten ist auf dem Kokompe von Cape Coast nichts mehr übrig. Fast eine Modell-Siedlung könnte das sein: Menschen aus mehreren Volksstämmen und unterschiedlichen Glaubens leben hier friedlich miteinander. Sie helfen und beraten einander, tauschen Werkzeuge, empfehlen sich gegenseitig Kunden, und jeder improvisiert auf der Grundlage jener Not, die erfinderisch macht: Aus Stahlgittern für den Häuserbau fertigen sie Schrauben und Muttern für Automotoren. Aus Holzbohlen zimmern sie Aufbauten für Lastkraftwagen, die als Busse jahrelang auf den roten Pisten zwischen Cape Coast und den umliegenden Dörfern verkehren. Sie schweißen rostzerfressene Autowracks so virtuos, dass die Karosserien hinterher aussehen, als kämen sie gerade vom Fließband. Vulkanisierer dichten geplatzte Schläuche an erhitzten Motorkolben, und Risse in Reifendecken flicken sie mit Draht. In defekte Kühler schütten sie Maniokmehl, das beim Aufquellen feine Risse verstopft. Und dass die Händler selbst im chronisch unterversorgten Ghana immer wieder gebrauchte Ersatzteile auftreiben, die sie im Kokompe dann zu stattlichen Preisen losschlagen, grenzt fast an Zauberei.
1986 – Die niederländische Zeitschrift »Nieuwe Revu« berichtet über »De Sleutelaars van Ghana« neben dem, was man laut Titel als Kunst auf dem Bett verstehen kann. Vielleicht heißt es auch »im Bett«.
Alhassan ließ sich 1976 in Siwudu nieder. Seine erste Werkstatt in der Stadtmitte von Cape Coast war längst zu klein geworden für die vielen Dichtungen, Werkzeugkisten und Motorblöcke, hydraulischen Wagenheber und Kanister mit altem und neuem Motoröl, die sich heute bei ihm stapeln. Wahre Kostbarkeiten. Alhassans Schatzkiste ist mit einem schweren Schloss gesichert. Den Schlüssel gibt der Meister nur ausnahmsweise aus der Hand.
Neben dem Eingang steht auf einer Tafel das Firmenemblem: »Alhassan Fitting«. Und darunter das Motto des gläubigen Muslim: »Everything by God« – Alles mit Gottes Hilfe. Zufälle gibt es für Alhassan nicht: Gott hat ihm eine große Familie geschenkt, Gott hat ihm eine florierende Werkstatt gegeben, nur mit Gottes Hilfe hat er nach Mekka reisen und als angesehener »Alhadsch« zurückkehren können. Und nur Gott allein könnte uns Europäern ermöglichen, an der feierlichen Aufnahme eines jungen Mannes in den Kreis der Fitter teilzunehmen – »if we pray«. Denn zu diesen Ritualen werden Fremde nur sehr selten zugelassen.
Morgens um sieben Uhr beginnt der Tag auf dem Siwudu Kokompe. Es sieht aus, als erwache ein Autofriedhof, wenn sich zwischen den Schrotthaufen, Autowracks und Holzhütten das Leben regt. Noch trotten gemütlich ein paar Ziegen durch die Werkstatt Alhassans, die Hähne krähen, und von den Feuerstellen steigt Rauch auf.
In den »chop bars«, den Imbissbuden, bereiten Frauen in schweren Holzmörsern Fufu zu, ein breiiges Gemisch aus Süßkartoffeln, Yamswurzeln und Kochbananen, das aussieht wie Kartoffelbrei und fast auch so schmeckt – soweit man Fufu überhaupt mit etwas anderem vergleichen kann als mit Fufu.
1987 – Endlich als »Büchlein«. Breitenbach Publishers veröffentlicht die Master-Arbeit von Peter Kensok zum ASA-Programm der Carl-Duisberg-Gesellschaft unter »Fitter – Entwicklung aus der Werkzeugkiste«.
Wie jeden Morgen kommt Alhassan Punkt acht Uhr in seinem VW 1600, den er seit mehr als einem Jahrzehnt liebevoll durchpäppelt. Auch auf sein Auto hat er in verschnörkelter Schrift sein Motto geschrieben: Everything by God.
»Ihr habt Glück«, begrüßt er uns, »wahrscheinlich wird heute in einer der Werkstätten ein neuer Lehrling eingeführt. Man holt gerade seine Mutter.« Das Beten hat offensichtlich geholfen.
Kurz darauf erscheinen auch die Lehrlinge. Zur Zeit bildet Alhassan 26 aus, eine stolze Zahl, die ihm viel Ansehen einbringt, denn wer so viele Lehrlinge hat, gilt als guter Fitter und reicher Mann. Nicht alle Lehrlinge erscheinen jeden Tag zur Arbeit, doch wenn sie kommen, verbeugen sie sich stets respektvoll vor ihrem Meister. Ohne ihn hätten die wenigsten in dem armen Land eine Ausbildung bekommen. Kaum ein Lehrling hat die Schule abgeschlossen, einige haben ihr Glück bereits im Ausland versucht und sind enttäuscht nach Ghana zurückgekehrt.
Yahaya Ahmed zum Beispiel. Er gehört schon zu den alten Hasen in Alhassans Team, obwohl er erst 26 Jahre alt ist. Vor einigen Monaten hat er seine Lehre unterbrochen und ist in die nigerianische Hauptstadt Lagos gegangen. Doch er hat keinen Job gefunden, obwohl er – wie die meisten Ghanaer im Ausland – bereit gewesen wäre, auch die niedrigsten und schmutzigsten Arbeiten anzunehmen. Jetzt hofft er auf eine eigene Werkstatt, zumindest aber auf einen Job als Taxifahrer. »Ich könnte die Mühle ja auch allein reparieren«, sagt er mit Blick auf John, der in der Werkstatt gegenüber sein Taxi schweißen lässt.
Auch John ist ein sogenannter »been to«, einer, der in Europa oder Amerika gewesen ist. Im westfälischen Rheine hatte er versucht, als Taxifahrer Geld für alles zu verdienen, was er sich in Ghana nicht leisten kann: Werkzeuge, ein Fernsehgerät oder gar ein eigenes Auto. Seinen Andeutungen lässt sich entnehmen, dass er lange arbeitslos war, dort in Deutschland. Aber er will lieber nicht darüber sprechen. »Shame to my enemies«, steht an seinem blaugelben Taxi – Schande über meine Feinde.
1988 – Zwei Jahre nach GEO übernimmt die Zeitschrift »Autor Motor Sport« einen Artikel über die Fitter von Ghana.
Zuerst befiehlt der Meister seinem jüngsten Lehrling, einen eingegrabenen Tonkrug mit schäumender Seife zu reinigen und dann mit Wasser zu füllen, das durch die porösen Wände teilweise wieder verdunstet und so den Rest kühlt – ein simpler, aber problemloser Kühlschrank. Ein elektrischer wäre längst geplündert worden auf der Suche nach Auto- Ersatzteilen.
Die Meister treffen alle wichtigen Entscheidungen auf ihren wöchentlichen »meetings« selbst: Sie bestimmen, ob sich ein neuer Fitter in ihrem Werkstatt-Dorf ansiedeln darf, sie ahnden Verstöße gegen die Regeln der Gemeinschaft, und sie beraten gemeinsam, wie sie sich am geschicktesten gegen die staatliche Verwaltung zur Wehr setzen können.
Die Behörden versuchen seit langem, die Fitter unter ihre Kontrolle zu bekommen und die Werkstätten zu registrieren. Doch was als schlichter Verwaltungsakt erscheint – ein einfacher Briefkopf mit Firmenname und Adresse reicht, wenn man sich registrieren lassen will –, das bedeutet für die meisten Fitter erhebliche Einkommensverluste. Denn wer erfasst wird, muss Steuern zahlen und für viel Geld eine Lizenz erwerben, mit der er auch nichts anderes machen darf als bisher ohne: eine Werkstatt gründen und Autos reparieren. Wofür also die Unannehmlichkeiten?
»Fitter: Es lebe der Schrott« – zum Herunterladen hier.
Es ist in Ghana ein offenes Geheimnis, dass die Fitter illegal arbeiten, dass sie alle Verordnungen, die ihnen nicht gefallen, entweder umgehen oder ignorieren.
Die Fitter wissen, dass ihnen nichts passieren wird, solange sie unentbehrlich sind und selbst hohe Beamte und Minister die Autos bei ihnen flottmachen lassen. Und solange die Familien zusammenhalten – denn dort suchen die Fitter die Unterstützung, die ihnen der Staat vorenthält.
Die Familien sind ihre Lebensversicherung und ihre Kreditgeber, Lehrlinge könnten ohne die Hilfe ihrer Familien überhaupt nicht leben. Denn von dem Wohlstand, den die meisten Fitter mit ihrer Werkstatt erwerben, profitieren die Lehrlinge kaum. Sie bekommen von ihrem Meister täglich gerade fünf Cedi Taschengeld ausgezahlt – das reicht für zwei Orangen oder ein Stück Zuckerrohr. An guten Tagen kommen noch einmal ein paar Cedi Trinkgeld dazu.
1988 – Auch die Zeitschrift Cash Flow« aus Wien findet die Fitter von Ghana einen Bericht wert.
Ein Lehrling, der sich selbständig machen möchte, muss tief in die Familienkasse greifen, um wenigstens das Geld für die allernotwendigsten Werkzeuge zu bekommen. Werkzeug gilt als Luxus, und Luxus ist in Ghana fast unbezahlbar. Eine Flasche Bier kostet 100 Cedi (2,60 Mark), ebenso eine Schachtel Zigaretten; ein kompletter Satz Zangen und Schraubenzieher kostet mindestens 2000 Cedi. Das ist für ghanaische Verhältnisse viel Geld: Der staatlich festgelegte Mindestlohn für Arbeiter liegt bei 90 Cedi am Tag – längst nicht genug, um eine Familie zu ernähren. Den meisten bleibt nichts anderes übrig, als gemeinsam mit Verwandten Yams, Casava oder Tomaten anzubauen und das Gemüse auf dem Markt zu verkaufen.
Unbeschwert können allein die Meister leben, die auf ihren »meetings« streng darüber wachen, dass sich nicht zu viele Konkurrenten im Siwudu Kokompe ansiedeln. Das Geschäft läuft immer besser, seit die Kunden ihr Misstrauen gegenüber den Fittern verloren haben und seit das strenge Regiment der Meister verhindert, dass Autos spurlos verschwinden oder geplündert statt repariert werden.
Dass Alhassan seine Lehrlinge fest im Griff hat, zeigt sich, als die ersten Kunden kommen. Er kommandiert laut: »Hier muss der Motor ausgebaut werden. Bei dem Datsun haben sich die Distanzstangen gelockert. Die Zündung des Käfers muss neu eingestellt, und der Vergaser muss gereinigt werden.«
1989 berichtet physis – die Zeitschrift für Medizin und Naturwissenschaften – über die Fitter von Ghana.
Die älteren Lehrlinge wissen, was sie zu tun haben; die jüngeren schauen zu, machen sich hier und da nützlich, reichen Werkzeug an, schrauben und drehen an Teilen, die ihnen die Erfahrenen zeigen. Nach und nach übernehmen sie auf diese Weise deren Wissen – und werden es ihrerseits an Neulinge weitergeben. Das Prinzip ist: Anschauen und nachmachen oder auch »learning by doing«. Regelrechten Unterricht durch den Meister gibt es nicht.
Das System ist weit verbreitet, und es erinnert an die Zünfte im europäischen Mittelalter: Jeder zehnte ghanaische Lehrling wohnt noch bei seinem Meister.
Kofi, der Elektriker, repariert auf einer selbstgezimmerten Werkbank eine defekte Autobatterie. Mühevoll kratzt er die Versiegelung ab, um an eine der bleiernen Zellen heranzukommen, die ausgetauscht werden muss. Fast eine Stunde dauert es, bis er sie herausziehen kann. Die Zelle ist zerfressen und unbrauchbar. Enttäuscht und ratlos sitzt er herum. Doch dann tröstet er sich: »Das ist gutes Material für Batterieklemmen. Ich kenne einen Ersatzteilhändler, der hat eine Form, in die er das Blei gießen kann. So ist wenigstens etwas davon gerettet.«
Kofi muss, wie auch Alhassan, seine Arbeit unterbrechen, als der Nachbar Kwame Nkrumah kommt, um die beiden zur Initiationsfeier eines neuen Lehrlings einzuladen. Die Mutter des Neuen sei gerade gekommen und habe alles, was für eine Feier nötig ist, mitgebracht.
1990 – Die Fernsehbeilage IWZ widmet den Fittern von Ghana einen Bericht.
Das feierliche Ritual findet, geschützt vor der sengenden Sonne, im Schatten eines Wellblechdaches statt. Teilnehmen dürfen nur Ehrengäste und die Meister, die schon seit vielen Jahren eine Werkstatt in Siwudu besitzen. In der Mitte des Kreises sitzen der Zeremonienmeister – ein Diesel-Fitter und alter Freund von Kwame Nkrumah – und der zukünftige Lehrling. Auf dem Boden zwischen den beiden liegen ein paar Flaschen Akpeteshie, ein starker Palmweinbrand, und Orangensaft, zwei Becher, Werkzeuge und vor allem ein Bündel Geldscheine. Die Familie von Francis, dem Lehrling, hat die ungeheure Summe von 2500 Cedi aufgebracht – der Preis, ein Fitter zu werden.
»Lasst uns beginnen, die Leute sind da«, verkündet der Zeremonienmeister. Die Gäste antworten wie aus einem Munde: »Wir haben es gehört. Auch der Junge ist da.«
»Ruhe!« ruft der Zeremonienmeister. »Ich bin Meister Adié, und du, der du mit Metall arbeiten willst, wer bist du?«
»Francis«, antwortet der Junge.
Meister Adié füllt einen Becher mit Akpeteshie und gießt etwas davon auf den Boden, als Trankopfer für Nana Fosu, den Geist der nahegelegenen Lagune.
»Gott hat diesen Sohn zu dir geschickt, Nana Fosu. Trink, was wir dir anbieten. Francis will Autoelektriker bei Meister Kwame Nkrumah werden, Nana Fosu. Er wird auf dem Boden des Siwudu Kokompe arbeiten, wie wir alle. Deshalb geben wir dir zu trinken. Hilf Francis und öffne seinen Verstand, damit er die Arbeit lernt. Wenn jemand Francis verderben will, dann verhindere das, Nana Fosu, ob das Übel nun vom Land oder von der See kommt. Verjag den Teufel! Mamee Adipa hat ihren Sohn zu Kwame Nkrumah gebracht. Du hast Akpeteshie getrunken, Nana Fosu. Jetzt hilf Francis!«
Danach passiert viele Jahre nichts. Der eine oder andere Vortrag zum Thema, die Gründung und spätere Auflösung des Vereins »Peace Support Network«, hier und da eine Berührung mit Ghanaern. – Und dann die Entdeckung einer Kiste voller Briefe von Menschen, die sich Hilfe für ihre eigenen Unternehmungen erhoffen. Ich war in den 1980ern und 1990ern halbtags hauptberuflich Papa, verdiente meinen Unterhalt als Journalist »auf Zeile« und war bei Weitem nicht das Füllhorn, das ich lieber gewesen wäre.
Der Lehrling muss einen Hammer nehmen und damit auf einen Meißel schlagen – Symbole seines zukünftigen Handwerks. Meister Adié gießt ihm dabei Akpeteshie über die Hände.
»Ich werde meinen Eltern keine Schande bereiten«, verspricht Francis. »Ich werde ihnen auch nach der Lehre bei Kwame Nkrumah auf dem Feld helfen und ihnen Geld geben, wenn sie mich darum …«
Plötzlich schleudert ihm Meister Adié einen halben Becher von Akpeteshie ins Gesicht. Francis lässt erschrocken Hammer und Meißel fallen und springt auf.
Der Ethnologe und der Bildreporter von 1986 sind wahrscheinlich nicht mehr ganz so fit wie damals. Wir stehen längst zu den »Lackschäden«, die mit der Zeit eben dazugehören. Horst Munzig trägt nicht mehr die schweren Kamerkoffer, sondern hat wunderschöne Filme über Spatzen und tauendes Eis an Flussläufen gedreht und von seiner Frau Ilse schneiden lassen.
Während ich dies schreibe, bin ich fast 60 und er fast sechsundachtig – und wir haben das beinahe nicht gemerkt.
Während wir irgendwie unser Leben gemeistert haben, haben es auch die Fitter von Ghana getan. Oder die Fitter weltweit überhaupt. Keine Ahnung von Technik hätten die? Blödsinn! Vielmehr haben wir selbst noch immer zu wenig Ahnung von Nachhaltigkeit. –
In der Printausgabe »Best of www.buecher-blog.net«, Band 9, feiern wir 2016 nicht nur 30 Jahre »Fitter: Es lebe der Schrott«, sondern auch 30 Jahre Freundschaft. Das muss man erst einmal hinbekommen zwischen Textern und Bildlern!
»Besorg dir bald Werkzeug, damit du nicht das vom Master nehmen musst und er dich losschicken kann, wenn irgendwo ein Auto liegengeblieben ist.«
Eine Art »Knigge für Fitter« wird Francis auf diese Weise vermittelt, in dem Ehrlichkeit, Respekt und Gehorsam gegenüber dem Meister die zentralen Regeln sind. Wer sie missachtet, wird geschnitten, erhält keine Hilfe von den anderen Fittern mehr, riskiert den wirtschaftlichen Ruin.
Ohne den strengen Kodex könnte die Gemeinschaft der Fitter nicht überleben. Denn im Siwudu Kokompe müssen Christen, Muslims und Animisten aus fast allen Stämmen Westafrikas miteinander auskommen. Unterschiedliche Geschäftsgebaren, Stammesrivalitäten und religiöse Spannungen bedrohen die labile Harmonie unter den Handwerkern. Die straffen Regeln verhindern, dass Konflikte offen ausgetragen werden und die Existenzgrundlage der Fitter zerstören.
Die notfalls erzwungene Solidarität ist ein Gebot der Not. Denn kein Fitter kann auf die Hilfe, das Werkzeug und die Ersatzteile der anderen verzichten. Im Laufe der Zeit haben die Fitter ein Selbstverständnis entwickelt, das sie stärker verbindet als alle Regeln: Sie sind stolz, Fitter zu sein.
Nachdem alle getrunken haben, ruft der Zeremonienmeister Baidooh, den ältesten Lehrling von Kwame, herbei: »Nimm diese 200 Cedi. Francis arbeitet von jetzt an mit euch. Kümmere dich um ihn, damit er sich schnell eingewöhnt.«
Baidooh nickt und verlässt den Kreis, um das Geld an die anderen Lehrlinge zu verteilen, denen Francis sich mit dieser Einstandsgabe unterstellt. Sollte sich Baidooh an seinen Auftrag halten, wird er dem Neuen die ersten Handgriffe als Elektriker beibringen – und zwar umsonst. Es gibt auch Lehrlinge, die vor jeder Erklärung die Hand aufhalten: »Empty stomach does not teach« – leere Mägen lehren nicht.
Kwame Nkrumah richtet nun das Wort an Mamee Adipa, die Mutter des Lehrlings: »Erkundige dich oft nach deinem Sohn. Ich erzähle dir, ob er gut oder schlecht ist. Stiehlt er aus den Autos, dann bringe ich ihn zur Polizei. Wenn er sich weigert zu arbeiten, dann musst du ihn überreden. Sonst straft Nana Fosu deinen Sohn, und er wird verrückt. Ich werde Francis wie meinen Bruder behandeln, und du wirst sehen, wie das Vertrauen zwischen uns wächst.« Die Mutter nickt schweigend, während sich die Gäste bereits erheben, um in ihre Werkstätten zurückzukehren.
In Alhassans Werkstatt gibt es kaum noch etwas zu tun. Die Lehrlinge schwatzen laut durcheinander, der Meister duldet es ausnahmsweise. Es freut ihn offensichtlich, daß er einige zu Meister Minta schicken kann, der um Hilfe gebeten hat.
Peter Kensok und Horst Munzig vor vielen Jahren. Wir können es kaum fassen, wie lange die Geschichte gehalten und wie wenig sich seit den 1980ern geändert hat. Aber noch immer freuen wir uns darüber, wenn wir hören, dass die Fitter von Ghana jemanden inspirieren, zum Beispiel gebrauchte Fahrräder nach Ghana zu schicken. Denn Fitter gibt es auch für Fahrräder. Und ein Fahrrad kann ein Kind zur Schule bringen und einen Erwachsenen zur nächsten Wasserquelle.
Vier Tage lang haben Meister Minta und seine 20 Lehrlinge an dem Bedford-Lastwagen gearbeitet. Mit Hilfe von Balken und Ketten haben sie den schweren Motor ausgebaut, ihn in alle Einzelteile zerlegt, wieder zusammengebaut und ins Chassis zurückgewuchtet.
»Hebadooh!« Wie die Fischer von Cape Coast beim Anlanden der Netze spornen die Helfer einander an, schieben den Laster vor und zurück, vor und zurück, bis der Motor endlich anspringt. Doch – aus dem Kühler fließt Wasser.
Meister Minta behält die Nerven. »Es ist wegen der Seeluft«, erklärt er. Die feuchte, salzige Luft zersetzt die Kühlrippen und lässt sie zerbröseln. Noch ließen sich die Rohre des Kühlers schweißen. Doch lieber lässt er Tanka rufen, einen jungen Fitter, der in letzter Zeit selbst die pfiffigsten Mechaniker im Siwudu Kokompe verblüfft hat.
Tanka bastelt Autokühler aus verschrotteten Klimaanlagen, die wie Wespennester an den Außenwänden der Hotels und Restaurants hängen. »Neue Kühler kann sich in Ghana niemand leisten – sofern es überhaupt welche gibt«, sagt Tanka. Den alten Bedford-Kühler wird er einem Metallhändler in Accra für 50 Cedi das Kilo verkaufen.
In der Werkstatt »Everything by God« tragen die Lehrlinge bereits die Werkzeuge und Ersatzteile zurück in den Holzschuppen. Es ist 17 Uhr – Feierabend. Alhassan ist mit dem Tagesverdienst zufrieden. Eine gutgehende Fitter-Werkstatt wirft in einer Woche mehr ab, als ein ghanaischer Hochschullehrer in Monaten verdient.
Gelassen ertragen es daher die Fitter, dass arrogante Studenten ihre Lehrlinge als »dirty boys« bezeichnen: »Let them have the brain, we have the money!« – Lass ihnen den Verstand, wir haben das Geld.
Fast alles hat Alhassan in seinem Leben erreicht. Er hat drei Frauen, 13 Kinder, eine florierende Werkstatt, und in Mekka war er auch schon. Nur einen großen Wunsch, den hat er noch: Einmal in seinem Leben möchte er eine Autofabrik besichtigen.
Text: Peter Kensok, damals Münster, heute Stuttgart; Horst Munzig fotografierte die GEO-Reportage, seinerzeit und noch immer: Mindelheim
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